vergriffen

Inhaltsübersicht

Jaqueline Sonego Mettner
«Das Essen ist akzentuiertes Leben»
(Novalis)

Jacqueline Keune
Wenn das Fressen
mit der Moral kommt
Gedanken zu Essen und Solidarität

Maya Doetzkies
Frauen und das Menscherecht auf Nahrung

Silvia Strahm Bernet
Wozu ein Über-Ich, ich habe Sonja

Monika Hungerbühler
Oh Manna, Himmelbrot
Von katholischen Broträubern und hungrigen Frauen

Maria Egli
Schlankheitskult und Diätmentalität
Christliche Askese in Neuauflage?


EDITORIAL 

Der Eröffnungsgottesdienst an der 7. Europäischen Frauensynode 1996 in Gmunden hat die vielfältige und unterschiedliche Lebenswirklichkeit von Frauen auf eindrückliche Weise sichtbar gemacht: Frauen aus zehn verschiedenen Ländern und aus allen Kontinenten haben Brote gebracht, aus den Früchten der Erde von Frauenhand verarbeitet: «I bring rye bread – it is for our sisters who labor and toil. Ich bringe Fladenbrot – es ist das Brot unserer türkischen Schwestern. Ich bringe Tortillas – das Brot unserer lateinamerikanischen Schwestern, die schwer an den Kosten unseres Wohlstandes tragen. Ich bringe Mazze – mit diesem Brot feiern unsere jüdischen Schwestern das Passahfest … » Und so brachten sie nacheinander Brot aus ihren getrennten Gärten an den gemeinsamen Tisch: eine Schale Reis, oftmals die einzige Nahrung der asiatischen Schwestern; Vollkornbrot als Symbol für den Kampf um die Bewahrung der Schöpfung; Weissbrot, die Nahrung der Wohlhabenden und zuletzt einen Kranz aus verschiedenen kleinen Broten als Zeichen für unsere Buntheit und schwesterliche Gemeinschaft. Überall auf der Welt schöpfen Frauen aus sich selbst, um ihre Familie, ihre Freundinnen und Freunde zu ernähren und zu nähren. Dieser Wirklichkeit trägt das Motto des diesjährigen Welternährungstages «Frauen ernähren die Welt» Rechnung. Frauen produzieren weltweit mehr als die Hälfte aller Nahrungsmittel, in vielen Ländern sind sie es, die praktisch die gesamte Nahrung für ihre Familie pflanzen, ernten und verarbeiten. Die Tätigkeiten rund um die Produktion und Verarbeitung von Lebensmitteln bestimmte den Rhythmus. des Alltagslebens vieler Hausfrauen bis in die jüngste Vergangenheit und tut dies für die Frauen in der Dritten Welt noch immer. Diese Arbeit, die von vielen Frauen erhebliche Opfer fordert, galt nie als besonders wichtig, im Gegenteil: Sie wird als selbstverständlicher Teil der Frauenrolle betrachtet, der in offiziellen Statistiken übersehen und in keinem Staatshaushaltsbudget erfasst wird. In der Eröffnungsfeier der Frauensynode erhielt diese alltägliche und aus dem Licht der Öffentlichkeit verdrängte Arbeit von Frauen durch die Verbindung mit dem Abendmahl ihre tiefere Bedeutung zurück: Frauenarbeit ist Arbeit für das Leben. Das Brot, das, von Frauenhänden hergestellt, den Hunger stillt, ist zugleich auch das Brot der Erinnerung an die widerständige und prophetische Praxis der frühen Christinnen und Christen. Es ist dieses Brot unserer Schwestern, das uns hilft, über unseren eigenen Tellerrand hinauszusehen und zu erkennen, was im Leben wirklich wichtig ist, was zählt. Wenn wir gemeinsam das Brot brechen, so decken wir die Unterseite eines Prozesses auf, in welchem die, Mahlfeiern im Laufe der Zeit immer mehr durch einen Ritus ersetzt wurden und aus der Einladung Jesu an die hungernden Menschen ein Geheimnis gemacht wurde, das Eingeweihten vorbehalten blieb. Dabei ist vergessen gegangen, dass die eucharistische Tischgemeinschaft bedeutet, tatsächlich miteinander das Brot zu teilen. Jedes Essen, das in der messianischen Tradition von Verantwortung und Solidarität steht – ob am Küchentisch, auf dem Feld, in der Gassenküche oder auf der Baustelle -, ist eine Feier der Eucharistie, in der Gegenwart und Zukunft der Menschen im Zentrum stehen. In einer Welt, deren zentrales Problem die globale soziale Ungerechtigkeit ist, in einer Welt des Überflusses, in der die fundamentalen Bedürfnisse von Millionen von Menschen tagtäglich missachtet und immer mehr Menschen vom Tanz ums Goldene Kalb ausgeschlossen werden, fällt ein neues Licht auf die religiöse Symbolik unseres christlichen Glaubens. Der Weg aus der geteilten Welt in Richtung PartnerInnenschaft erfordert unsere Aufmerksamkeit für das, was Menschen davon abhält, sich am globalen Tisch niederzusetzen, er verlangt persönlich und weltweit schöpferisches und konstruktives Handeln von denjenigen, die für Herrschaft und Ausbeutung gegenüber anderen verantwortlich sind. Kein Schuldbekenntnis wird von uns erwartet – davon wird niemand satt -, sondern dass wir die Gründe der Ungerechtigkeiten benennen und unsere Privilegien dafür einsetzen, damit alle zu Nahrung kommen.

Li Hangartner

1998_3_Ganzes Heft als PDF