Utopie

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Inhaltsübersicht

Brigitte Weisshaupt
Fluchtpunkte
Horizonte, auf die hin das Jetzt angelegt ist

Christina Thürmer-Rohr
Alptraum Utopie

Ursula Vock
«Das Ganze wollen»
Utopisches Denken

Luzia Sutter Rehmann
Der geöffnete Himmel
Biblische Utopien am Beispiel der Johannes-Apokalypse

Theres Spirig-Huber
Halbe-Halbe … das aber ganz!
Gerechte Arbeitsteilung zwischen Frauen und Männern

zwölf Frauen
Zu einem guten Leben gehört …
Ansichten


EDITORIAL

Sie halten die letzte FAMA vor der Jahrtausendwende in den Händen. Das Heft gewährt allerdings statt Vorausblicken aufs neue Jahrtausend eher Rück- und Seitenblicke auf das vielleicht etwas aus der Mode gekommene Wort Utopie. Rückblicke auf die Geschichte der Utopie. Seitenblicke zu Utopischem im Feminismus. Bestandesaufnahmen. Ausgangspunkte waren für uns das Schlagwort vom Ende der Utopien und die damit verbundene Frage nach Sinn und Unsinn von Utopien. Es waren die alten ethischen Fragen nach dem guten Leben, nach Gerechtigkeit und nach der sich mit solchen Gesamtkonzeptionen reibenden Verschiedenheit der Menschen. Alles in allem also eine seriöse Nummer, in der das Spielerische, das Aufmüpfige, das Poetische vielleicht für einmal ein wenig zu kurz kommt. Wer’s vermisst, bestelle FAMA 4/93 zu «Frauen-Science-fiction». Oder blättere einmal alle alten Nummern durch, die sie zu Hause hat – ein Fundus für Utopisches und eine Alternative für die Millenniumsparties in der kommenden Silvesternacht

Was sonst noch fehlt in diesem Heft, ist die radikale Absage an Utopien, wenn auch Christina Thürmer-Rohr in ihrem Beitrag «Alptraum Utopie» Utopien nur noch gelten lässt, um gegenwärtige Kritik zu inspirieren. Keinesfalls aber dürften Utopien in die Tat umgesetzt werden, weil jeder Herstellungsprozess immer schon mit Gewalttätigkeit gegenüber dem Ausgangsmaterial verknüpft sei. Um eine radikale Absage an jegliche Utopie doch noch ins Spiel zu bringen, sei an die deutschsprachige, aus Rumänien stammende Schriftstellerin Herta Müller erinnert. Sie schildert, wie die angewandte Utopie des Sozialismus keine Verschiedenheiten zuliess, zur Kontrollinstanz wurde, vor der kein individuelles Denken ohne Schuldgefühle möglich war: «Immer zurückgeworfen aufs Detail, von einem Handgriff zum anderen blieb mir nichts übrig, als mich angesichts des Ganzen, der Idee schuldig zu machen. … Meine Einzelheiten hatten keine Gültigkeit, sie waren nicht ein Teil, sondern ein Feind des Ganzen. … Meine angebotene Unfähigkeit, mit dem Ganzen umzugehen, quälte mich. … Ich wusste immer dass ich nicht entsprach. » Für Herta Müller ist der Ruf nach Utopien darum gleichbedeutend mit dem Wegsehen von der Diktatur Sie lässt auch nicht gelten, der real existierende Sozialismus sei nicht mit der sozialistischen Utopie gleichzusetzen: «Für mich war das der Sozialismus gewesen. Nicht ich habe die Diktatur so genannt, sondern sie sich selber Sie hat sich unter diesem Namen Tausende Male gegen alles Menschenmögliche eingehämmert. Sie hat das Leben verboten. Sie hat jeden in Frage gestellt, so wie er sich selber sah.»(1) Die Philosophin Brigitte Weisshaupt hält demgegenüber in ihrem Beitrag daran fest, dass gerade das Denken selber u-topisch sei, indem es immer schon über das Bestehende hinausgeht zu dem, was noch nicht ist. So bestimmte Utopie würde sich der Kontrolle per Definition immer schon entziehen. Nicht die Gesamtentwürfe, sondern deren Fragmentierung hat ihrer Ansicht nach einen Hang zum Totalitären, weil sie Menschen orientierungslos und besser beherrschbar macht. Der Perfektionismus, das Ziel der Vervollkommnung als eine Seite der Utopie braucht aber als Korrektiv unbedingt Fehlerfreundlichkeit, damit Utopisches seine Offenheit behält. Im Sinne von Kritik und Hinausdenken über das Bestehende ist auch Feminismus immer schon utopisch. Erst recht, weil seine Forderungen bis heute weithin uneingelöst sind. Der Trend des Patriarchates ist ungebrochen. So sehen es zumindest die einen. Judith Falludi redet gar von einem Backlash (‹Die Männer schlagen zurück›). Dieser Einschätzung entgegen steht die von Frauen des Mailänder Frauenbuchladens vor einigen Jahren provokativ aufgestellte These vom Ende des Patriarchates. Dem Utopischen im Denken der Mailänder Feministinnen und der Philosophinnengemeinschaft Diotima aus Verona geht Ursula Vock nach. Sie sieht in deren Denkansätzen eine Möglichkeit, klassische Widersprüche im feministischen Denken zu überwinden. Nicht mehr Defizite stehen im Mittelpunkt, sondern positive Veränderungen und die Stärke der Frauen. Aus dem breiten Spektrum feministischer Anliegen greift der Beitrag «Halbe-Halbe … das aber ganz!» die feministische Utopie der gerechten Arbeitsteilung zwischen Frauen und Männern heraus. Theres Spirig-Huber die das Modell zusammen mit ihrem Partner und den gemeinsamen Kindern erprobt hat, überprüft die Utopie auf ihre Alltagstauglichkeit. Aus feministisch-theologischer Perspektive befasst sich Luzia Sutter Rehmann anhand der Apokalypse des Johannes mit biblischen Utopien. Entgegen der heute weit verbreiteten Verengung von Apokalypse auf Katastrophisches und der Ansicht, apokalyptische Literatur sei per se totalitär, liest sie die Apokalypse als Widerstandsliteratur. Entscheidend für dieses Verständnis ist allerdings, wer apokalyptisches Denken für sich in Anspruch nimmt. Das Ende der bestehenden Welt bedeutet für Entrechtete und Unterdrückte, dass es nicht ewig so weitergehen muss und etwas anderes, neues entstehen kann. Formuliert hingegen die Geschäftsleitung einer grossen Schweizer Firma, dass in Zukunft kein Stein auf dem anderen bleiben werde, dann ist dies für die Betroffenen kein Anlass zur Hoffnung. Utopien entstehen letztlich aus der Sehnsucht nach einer Welt, in der wir gerne leben wollen, aus der Sehnsucht nach dem guten Leben. Was sie unter gutem Leben verstehen, beantworten zum Schluss Frauen aus den verschiedensten Lebensaltern und -bereichen von ihrer eigenen Erfahrung her. Die kurzen Statements laden zum Weiterdenken ein: Was gehört für dich, für Sie, denn unverzichtbar zu einem guten Leben für alle? (1) Herta Müller, Zehn Finger werden keine Utopie, in: Hunger und Seide, Reinbek bei Hamburg 1995, Zitate von S. 59 und 51.

Ursula Vock

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