Preis CHF 5.00 + Versandkosten

Inhaltsübersicht

«Ehr-Furcht» – das Wort klingt fremd. Gebrauch davon wird gemacht, wenn die grossen Katastrophen und die grossen Wunder, auch die Alltagswunder, uns daran erinnern, dass wir in einer Welt leben, die uns das Staunen, aber auch das Fürchten lehrt. Über und vor dem, was in, um und über uns ist. Sei es eine Körperzelle, das Meer oder gar das, was wir Gott nennen. Ehr-Furcht ist ein schillernder Begriff, denn er drückt Furcht aus und Respekt. Ihn genauer anzuschauen, in seiner Befremdlichkeit und Faszination, darum geht es in dieser Nummer.

Annemarie Pieper
Der Wert des Lebens

Carola Meier-Seethaler
Die Ehrfurcht vor dem Leben
Albert Schweitzer, der unterschätzte Philosoph.

Helga Kohler-Spiegel
«Nennt es nicht Ehrfurcht …»

Jacqueline Sonego Mettner
Gottesfürchtig und lebenswach 

Ein Gespräch zwischen FAMA-Redaktorinnen
Ehrfurcht

Heidi Widmer
Ehrfurcht
«Die Stunde Zero» in Sri Lanka am 26.12.04

Reinhild Traitler
Gott ist mit uns geblieben


EDITORIAL

Li Hangartner

Ehrfurcht. Das klingt altmodisch. Die Suche im Internet ergibt ein anderes Bild: Von Ehrfurcht vor dem Tod ist hier die Rede und vor den Toten, Ehrfurcht vor der Heiligen Schrift, vor der Wahrheit fremder Traditionen, Ehrfurcht vor dem Leben, vor der Schöpfung, gar vor Hühnern, Schweinen und Rindern. Auch von Ehrfurcht vor Gott. Ehrfurcht, dieses alte Wort, taucht wieder vermehrt da auf, wo die Würde menschlichen Lebens in Frage gestellt ist, wo das menschliche Leben und die Schöpfung durch Katastrophen bedroht sind. Im Duden finden wir diesen Begriff zwischen Ehrerbietung und Ehrgeiz, das Wort, das Furcht mit Ehre verbindet, stammt aus dem religiösen Bereich zu Beginn des 18. Jahrhunderts und bezeichnet zunächst die innere Ergriffenheit gegenüber dem Göttlichen. Es steht für eine Haltung, in der man das Geheimnis der Dinge und den Wert ihrer Existenz wahrnimmt, für die Empfindung, dass etwas heilig-unnahbar ist. Für die Erfahrung des Hohen, Mächtigen und Herrlichen, des Jenseitigen, des Einzigartigen auch. Das Judentum kennt die sogenannten „Tage der Ehrfurcht“, oder „Hohen Feiertage“ zwischen dem Neujahrsfest Rosch ha Schanah und dem Versöhnungstag Jom Kipur. Die „Furchtbaren Tage“, wie sie auch genannt werden, sind rein religiöse Feste, die Gottes Rolle als Richter des Universums feiern. Sie heben nachdrücklich die Begriffe der Moral, der Gewissenserforschung und der Heiligkeit in den Vordergrund. Im Mittelpunkt der Gottesdienste steht der Begriff der „Umkehr zu Gott“: Gott ist bereit, den Menschen ihre Schuld zu verzeihen und ihnen Gelegenheit zu bieten, das neue Jahr mit einer „unbeschriebenen Seite“ zu beginnen. Der jüdisch-christliche Glaube bezeugt nicht einen Kuschelgott, der alles und mich gut und stark findet, der die Verhältnisse schön färbt, den ich verfügbar machen kann, handlich und klein, gemütlich und antiautoritär, sondern bezeugt einen Gott, der Barmherzigkeit übt und Gerechtigkeit schafft. Recht, Glaube und Barmherzigkeit gehören untrennbar zusammen. Wenn in der Bibel von der rechten Beziehung zu Gott die Rede ist, taucht oft der Begriff der Gottesfurcht auf. Im hebräischen bedeutet Furcht/Ehrfurcht Jir’ah und kommt von ra’a – sehen. Aussprüche wie „die Furcht Gottes ist der Weisheit Anfang“ heben die Bedeutung des ehrfürchtigen Sehens hervor. Gottesfurcht meint nicht, dass die Menschen Angst haben sollten vor Gott, sondern etwas von der Hoheit, der Heiligkeit Gottes wahrzunehmen und das Rechte zu tun. Die Theologie hat dieses Moment der Ergriffenheit angesichts der Gegenwart Gottes das fascinosum et tremendum genannt: das tiefe innere Erschrecken und gleichzeitig das fasziniert Sein von der Heiligkeit und Unbegreiflichkeit Gottes. Wer die Autorität aus dem Bilde Gottes streicht, erniedrigt Gott zu einem Zerrbild nach eigenen menschlichen Vorstellungen, einem harmlosen lieben Gott, der immerfort ein Auge zudrückt. Wer dagegen Liebe und Befreiung aus dem Gottesbild streicht, macht aus Gott einen dämonisch-lieblosen, seelenvergiftenden Willkürherrscher. Unermüdlich hat Albert Schweitzer die Ehrfurcht vor dem Leben gepredigt: „Leben inmitten von Leben, das leben will“. Diese Ehrfurcht vor dem Leben, so Carola Meier-Seethaler in ihrem Beitrag, sei jedoch oft als eine Art sentimentaler Naturverherrlichung missverstanden worden, anstatt darin die Begründung seiner Ethik zu sehen. Ethisch sei der Mensch nur, wenn ihm das Leben als solches, das der Pflanze und des Tieres wie das des Menschen, heilig sei und er sich dem Leben, das in Not ist, helfend hingebe. Für den Arzt und späteren Träger des Friedensnobelpreises enthielt die Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben also alles in sich, was als Liebe, Hingabe, Mitleiden, Mitfreude und Mitstreben bezeichnet werden kann. Hinter uns liegt ein Jahr der grössten sogenannten Naturkatastrophen, die in wenigen Augenblicken unsagbares Leid über Hunderttausende von Menschen gebracht haben. Naturkatastrophen dieser Größenordnung schockieren und traumatisieren aber nicht nur; sie lösen auch Fragen aus: oberflächliche und hintergründige, angstvolle, die über uns kommen und uns in den Abgrund der Verzweiflung reißen können. Wir stoßen an Grenzen und finden keine Antwort. Heidi Widmers Nachtnotizen sind ein Versuch, ihre Erfahrung in der „Stunde Zero“ in Sri Lanka in Worte zu fassen. Reinhild Traitler tritt mit ihr über literarische Vorbilder in einen inneren Dialog und stellt die Frage nach Gott angesichts dieser Katastrophen, eine Frage, die so oft im vergangenen Jahr angesichts des Ausmasses von Zerstörung und Leid gestellt wurde. Die Ethikerin Annemarie Pieper geht von der Tatsache aus, dass immer weniger Menschen überzeugte ChristInnen sind und fragt, ob der Wert, den wir dem Leben zuschreiben, auch unabhängig von einer religiösen Bindung an einen Gott Bestand hat. Sie löst den Satz „Das Leben ist heilig“ am Beispiel Feuerbachs und Nietzsches aus seinem ursprünglich religiösen Zusammenhang heraus und zeigt auf, dass der Mensch fähig und willens ist, die Heiligkeit des Lebens in der Menschenwürde festzuschreiben. Im Mittelpunkt des Beitrags von Helga Kohler-Spiegel steht der ambivalente Gebrauch des Begriffs Ehrfurcht in religiöser Hinsicht. Im ersttestamentlichen Verständnis will Ehrfurcht, diese respektvoll-distanzierte Haltung, die Gott und dem Menschen entgegengebracht werden soll, uns achtsam machen für die Spannung zwischen Nähe und Distanz, sie will den Abstand wahren. Ehrfurcht, so verstanden, macht einen Zugriff auf diese Person unmöglich. Die Autorin zeigt auf, wie schnell die Bedeutung dieses Begriffs eingeschränkt und missbraucht und in Zusammenhang mit Unterordnung gebracht wurde. Jacqueline Sonego Mettner befragt Texte, Menschen und Geschehnisse auf das Wort Gottesfurcht hin. Sie unterscheidet zwischen knechtischer und wahrer Gottesfurcht und zeigt den Zusammenhang auf zwischen Gottesfurcht und Furchtlosigkeit. In einem Mailwechsel nähern sich einige der FAMA-Redakteurinnen assoziativ dem Thema an. Ausgehend von der Heiligkeit von sakralen Bauten und Orten, die Ehrfurcht wecken können und das unerwartete Gefühl des Nachhausekommens in einer völlig fremden Welt, geht es hier auch um den Respekt vor der Tradition, um Ehrfurcht vor den Überlieferungen, durchaus aber auch um kritische Distanz zu einem Begriff, der ambivalent bleibt, beides umfassen kann – Respekt und Unterwerfung. Ein Gegenbegriff zu Ehrfurcht taucht hier auf: Hybris, die Selbstüberschätzung des Menschen, der blinde Glaube an die Technik und die Naturwissenschaft.

2006_1_Ganzes Heft als PDF