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Inhaltsübersicht

Spätestens seit dem Erstarken des Populismus sind Gefühle im öffentlichen Raum wieder ein Thema. Gefühle polarisieren: Einerseits gehören sie zu unserem menschlichen Wesen, unterstützen unsere Motivation zu Handeln, „Anzupacken“, lotsen uns durch unsere Prioritäten. Grosse Gefühle stiften Partnerschaften und Friedensprozesse. Andererseits können sie uns auch den Blick verstellen, wenn sie Argumente und Sachinformation überlagern. Sie bieten dann einen  Ermöglichungsraum für Instrumentalisierung bis hin zu Manipulation und Vorurteilen. Ambivalent sind Gefühle insbesondere auch in Emanzipationsprozessen – die Zuschreibung von Gefühlen als „weibliche Natur“ ist nicht nur falsch – sie ist bis heute ein Hindernis auf dem Weg zu Gleichstellung und gesellschaftlicher Anerkennung.

Geneva Moser
Paris – Jerusalem – Nazareth – Fahr
Eine Gefühlsreise

Agnes Arndt
Der homo emoticus hat kein Geschlecht
Zur Geschichte der Gefühlswahrnehmung

Andrea Bernhard
Lächeln für den Lohn
Eine Berufsbiographie

Christa Binswanger
Politik Macht Gefühl
Vom Potential des geteilten Unglücklichseins

Luzia Sutter Rehmann
Strong Emotions
Wut in der Bibel

Kathrin Bolt
Unkontrollierter Lachanfall*
Ein Plädoyer für mehr Humor in der Kirche

Denise Bergold-Caldwell
Weibliche* Freiheit und das muslimische Kopftuch
Eine kritische Anmerkung zu öffentlichen Affekten

Literatur und Forum

* Dieser Artitkel ist auf famabloggt.wordpress.com


Editorial

Jeannette Behringer

Ich gebe es offen zu: Ich war ergriffen. Ergriffen von den Massen. Beeindruckt von den Gesängen, den Slogans, geschrien oder aufgemalt. Dieses Gefühl, Teil eines grossen Ganzen zu sein. Allein und doch aufgehoben, irgendwie.

Als ich zum ersten Mal ein Fussballstadion besuchte und es mir so erging, war ich geschockt von mir selbst. Massen sind verführbar, irrational! So hatte ich es gelernt. Sachliche, «vernünftige» Debatten sind dann ja nicht mehr möglich. Mich selbst zur Ordnung rufend, glitt mein Blick dann verächtlich über die Ränge, vorbei an den «dumpfbackigen» Fankurven, deren Geschrei mir kindisch vorkam. Vom Spiel selbst habe ich damals kaum etwas mitbekommen, so beschäftigt war ich mit meiner distanzierenden (und überheblichen) «Feldforschung».

Dieselbe Regung hatte ich aber auch im Juni dieses Jahres. Am Frauenstreik. Ich war ergriffen von der wogenden Masse, sah, wie sich aus allen Richtungen Mädchen und Frauen aller Altersstufen in Zürich zum Treffpunkt bewegten, der zu einem riesigen Teppich aus Menschen, Fahnen, Musikinstrumenten und Plakaten wurde. Ich war ein freudiger Teil eines grossen Ganzen, und ohne die Euphorie, die die Masse in mir auslöste, wäre der Tag nur halb so wirkungsvoll gewesen. Denn Emotionen tragen bei zur Strahlkraft von Ideen, Überzeugungen, Visionen. Sie helfen, komplexe Inhalte auf einfache Formeln zu reduzieren, ohne die sich politische Botschaften nicht verbreiten würden.

Die Frage ist, ob die Angelegenheit, für die wir uns begeistern, eine «gute» oder eine «nicht so gute» Sache ist. Ja, ich weiss: Was ist eine gute, was eine nicht so gute, gar schädliche Sache? Zudem ist wichtig, ob wir es zulassen, dass die Begeisterung der einen mit problematischen oder negativen Gefühlen für die anderen verbunden ist, die eben eine andere Meinung vertreten. Wenn wir beobachten, dass wir Menschen das Wort abschneiden, sie niederbrüllen oder ihnen gleich gar nicht mehr zuhören vor lauter Empörung: Dann sollten wir doch diese Emotionen kurz wegatmen. Aber nur dann.