vergriffen

Inhaltsübersicht

Barbara Lehner
Leidenschaft für das Leben
Eine Schöpfungsspiritualität

Dorothee Dieterich
Spiritualität im Frauenalltag

Isabelle My Hanh Derungs
Gott ist immer Gott

Verena Jegher
Spiritualität des Durchhaltens

Antoinette Brem
«Sei du dein und ich werde dein sein»
Zur Spiritualität des Coming out

Vreni Schneider
Spiritualitätsboom ohne Erotik

Regula Grünenfelder
Spirituelle Ausbeutung


EDITORIAL

«Pause – mehr Spiritualität wagen. Die Nachfrage nach Tagungen und Kursen im Bereich persönlicher Spiritualität ist ungebrochen. Die Einführungstage in die Meditation sind gut besucht. Die Sommer-Meditationswoche war wie immer voll belegt … » So steht es im Jahresbericht 1998 des TagungsZentrums-Rügel. «Weibliche Spiritualität, die Leserinnen und Leser bereichert» «Weg und Wandlung. Zur Spiritualität heutiger Jakobspilger und -pilgerinnen» – «Spiritualität und Lebenshilfe» usw. preisen Pressetexte von Verlagen ihre neusten Reihen an. Oder kennen Sie die «Spirikiste»? Es ist eine spirituelle Schatzkiste für Jugendliche durchs Jahr deren Ziel es ist, Spiritualität für Jugendliche konkret und attraktiv zu gestalten. Es wäre noch vieles aufzuzählen rund um den boomenden Markt «Spiritualität». Was ist überhaupt Spiritualität? Was charakterisiert sie? Was umfasst sie? Sicher mehr als die lateinische Wurzel dieses Begriffs vermuten lässt spiritus = Geist. Sicher mehr als geistliche Übungen oder Exerzitien oder Meditationspraktiken. Vielleicht dies: Achtsamkeit für alles Lebendige, Suche nach Heilwerden, Verbindung von Mystik und Politik. Um unser eigenes Tasten und Suchen anzuzeigen, um unsere Entdeckungsreise hin zu «Spiritualität» anzuzeigen, haben wir den Titel «Erkundungen zu Spiritualität» gewählt. Weil wir höchstens Kundschafterinnen sein können und Schauende und Suchende. Ich habe vor kurzem an einer Tagung zum ersten Mal in meinem Leben einen Baum umarmt. Ich bin dazu ermuntert worden – einfach so und freiwillig hätte ich dies nie getan. Bis jetzt habe ich mir oft und intensiv und mit grosser Freude Bäume angeschaut, bewundert, sie berochen und den Duft genossen. Vor den Fenstern unserer Wohnung hat es glücklicherweise viele Bäume, die ich sehr gern habe: eine Birke, zwei Quittenbäume, ein Nussbaum und viele Platanen. Aber noch nie habe ich einen von ihnen umarmt. In diesem Kurs bin ich mir beim Baum-Umarmen nur deshalb nicht verrückt vorgekommen, weil da noch andere Frauen waren, die dasselbe zum ersten Mal versucht, haben. Und plötzlich ist uns die politische Bewegung in Indien in den Sinn gekommen, wo Frauen und Kinder Bäume umarmt haben, um sie vor dem Fällen zu bewahren. Bei dieser Erinnerung an die sog. Chipko- («Umarmt den Baum») Bewegung wurde mir auf einmal ganz wohl in meiner Berührung, und ich spürte die Lebenskraft des Baumes ganz deutlich. Dass Spiritualität nichts für mich allein, nur für mich persönlich ist, dass sie keine Flucht vor der Welt, sondern mehr eine Bewegung zur Welt hin ist, davon spricht Vreni Schneider in ihrem Artikel. Für sie hat Spiritualität viel zu tun mit der Suche nach Gerechtigkeit, denn «dafür brauche ich die Ruach, den Geist und die Weisheit. Sie weckt in mir Zorn und Wut, Sehnsucht und Leidenschaft». Spiritualität muss auch gar nichts Hehres oder Heiliges an sich haben. Sie muss nicht fromm riechen und sich nur in Gotteshäusern abspielen. Sie nistet auch im Alltag, insbesondere im Frauenalltag. Was Spiritualität mit Velofahren, Duschen oder Salat ernten zu tun hat, darüber sinniert Dorothee Dieterich in diesem Heft nach. Spiritualität zeigt sich auch im politischen Engagement, im hartnäckigen Dranbleiben, im immer wieder das Gleiche-Tun-oder-Fordern, z.B. in der Friedensarbeit auf dem Balkan, wie Verena Jegher in ihren Gedanken aufzeigt. Gerade in diesem Prozess lebt Spiritualität als dynamische Kraft, als ein Wissen darum, dass in allen Wesen derselbe göttliche Hauch atmet und dass wir durch ihn mit jedem Wesen verbunden sind. Geduld, Beharrlichkeit, Durchhalten sind hier die Charakteristika von Spiritualität. Spirituell leben meint aber auch, dass ich zu mir stehe, dass ich an mir vorbei Gott nicht finden kann. «Sei du dein und ich werde dein sein» – diesem Satz des Mystikers Nikolaus von Kues spürt Antoinette Brem nach: Wenn wir das, was in uns leben will, z.B. die Liebe zu einer Frau, nicht radikal ernst nehmen, geht unser Leben in die Leere und unsere Gottsuche ist vergebens. «Was ist dir heilig? Wofür lebst du, kämpfst du? Welche Erfahrungen haben dich in deinem Leben geprägt und wie? Was nährt dich? Was treibt dich an?» (Barbara Lehner). Auch so könnte eine fragende Annäherung an Spiritualität aussehen. Welche Antworten könnten Sie, liebe Leserin, lieber Leser geben? Oder welche Fragen? Sind Sie spirituell? Bin ich es? Sind es unsere Kinder? «Spiritualität» ist ein grosses Wort, ein anspruchsvoller Begriff, mit dem nicht immer gleich sorgfältig umgegangen wird. Für uns westliche Frauen gestaltet sich die Suche nach spirituellen-religiösen Erfahrungen anders als für Frauen aus anderen Kulturen (Native Americans öder z.B. asiatische Frauen). In ihrem Artikel «Spirituelle Ausbeutung» geht Regula Grünenfelder den Übergriffen auf indianische Spiritualität nach und erzählt die Geschichte vom Mourning Day, dem amerikanischen Trauertag, der fast nirgends bekannt ist, noch begangen wird. Im Gegenteil: Thanksgiving deckt diesen Teil amerikanischer Geschichte zu. Entfremdung, Heimatsuche, Identität-Finden – das spielt sich auch im Bereich der Spiritualität ab. Isabelle My Hanh Derungs, eine gebürtige Vietnamesin, zwischen buddhistischem Tempel, katholischer Kirche und freier evangelischer Gemeinde («Ich lernte die Angst, die ich vorher nicht kannte … ich wurde fromm.») «beheimatet», spricht von ihrem Gott, dem sie sich nahe fühlt beim Spüren der Regentropfen, beim Lauschen auf das Rascheln der Blätter und die Vögel, beim Betrachten des Monds und beim Beobachten der Ameisen. Und wenn ich asiatischen Theologinnen zuhöre, dann spüre ich meinen spirituellen Hunger und Durst besonders deutlich: «Die neue Spiritualität asiatischer Frauen … feiert lieber, als dass sie fastet, sie beugt sich lieber, als dass sie kontrolliert. Es ist eher eine Oster- denn eine Karfreitags-Spiritualität. Sie ist eher schöpferisch als konservativ… Spiritualität ist ein Prozess. Sie ist nie ein für allemal erreicht. Sie erstarrt auch nicht. Es gibt aber auch kein fliessendes, kontinuierliches Wachstum. Auch Rückentwicklung und Quantensprünge sind denkbar. Es gibt Höhen und Tiefen, Todeskämpfe und Ekstasen. Die neue Spiritualität von Frauen verspricht vibrierend, befreiend und farbenfroh zu werden. Ihre Richtungen und Tendenzen scheinen grössere Lebensmöglichkeiten und Freiheiten zu eröffnen und dadurch mehr und mehr Gelegenheit zu bieten, wirklich, intensiv und ganz lebendig zu sein!» (Zitiert aus: Chung Hyun Kyung, Schamanin im Bauch, Christin im Kopf, S. 178, vgl. Literatur zum Thema in diesem Heft). In der Hoffnung, dass der eine oder andere Artikel für Ihre spirituelle Erkundungsreise zum Proviant werden kann, wünsche ich Ihnen, liebe Leserin, lieber Leser, viel Lesegenuss.  

Monika Hungerbühler

1999_3_Ganzes Heft als PDF