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Inhaltsübersicht

Der Begriff «Stoff» verknüpft ganz unterschiedliche Fäden, lässt an Textiles denken, an Kleiderproduktion, aber auch an politischen Zündstoff, an Stoff zum Träumen, an Verhüllungs- und Enthüllungsgeschichten. Das Heft bietet einen vielfältigen Zugang zum Thema «Stoff», einem Thema, das durchaus Stoff zum Weiterdenken bietet.

Barbara Bleisch
Gut betucht
Die Textilindustrie aus ethischer Perspektive

Tania Oldenhage
Bibel-Stoffe und Dekonstruktion

Ivoni Richter Reimer
Lydia – die Stoffhändlerin

Farideh Akashe-Böhme
Verhüllen – Enthüllen
Eine kulturgeschichtliche Perspektive

Monika Hungerbühler
Meine Liebe zum Stoff
Gedankenfäden zu Textilien und Text

Stefanie Bieri
Das Textile in der Kunst

Dorrie Iten-Gilden
Zündstoff «Israel – Palästina»
Ein Multiversum explosiver Perspektiven

Silvia Strahm Bernet
Traumstoff Liebe


Editorial

Silvia Strahm Bernet

Stoff – dieses Wort liebt es, Verbindungen einzugehen. Es ist nicht wählerisch. Was es dabei aus sich macht, kann wunderschön sein, aber auch tödlich. Wenn es ums Erzählen geht, dann holt es sich alles, was es zu holen gibt, in der Wirklichkeit und im Traum. Aber nur der Traum bringt es zu jener Nähe, die beides zu einem macht, den Traum und den Stoff, wo hingegen die Wirklichkeit unverbunden bleibt, auch wenn sie ebenso unerschöpflich Stoff hergibt wie der Traum. Nicht nur der Erzählstoff wird nie zur Neige gehen, auch der Lesestoff nicht, solange es Lesende gibt, die nicht sein können ohne diese unterschiedlich gemischten Ingredienzien aus Fakten und Fantasie. Wieso aber gibt es Erzählstoff, Lesestoff, Traumstoff, Farbstoff, Giftstoff, sogar Rohstoff aber keinen Musikstoff, keinen Beobachtungsstoff, keinen Glaubens- oder Wutstoff? Dafür Sprengstoff? Und Stoffwechsel? Rätsel über Rätsel, aber kein Rätsel-, auch kein Ratestoff wird daraus. Auf jeden Fall besitzt der Begriff Stoff eine grosse Integrationskraft – er lässt uns an Material denken, an Tuch, an Bomben, an Träume, an Drogen. Und so unterschiedlich wie die Realitäten und Träume sind, die er in seinen Materialen und Mustern sammelt, so vielfältig werden die Geschichten und die Theorien, die es von und über ihn zu erzählen gibt. Stoff für sich allein ist eben: Stoff, Tuch in allen Mustern und Farben. Als Kleid, Sofaüberzug, Vorhang oder Bettwäsche verhüllt, schützt und dekoriert er Gegenstände und Körper. Vom Notwendigen, über das Nützliche bis hin zum Luxus spinnt er seine Fäden – einfarbig ist er, üppig und bunt, kariert, gestreift, je nach Moden, kulturellen Traditionen oder Epochen. An Stoffmustern und -farben lässt sich ablesen, wie wir uns fühlen, wovon wir träumen, wie wir unsere Welt sehen (wollen). Man verheisst uns in Kleidern den Orient, die Zartheit des Frühlings, die Intensität des Herbstes, man umschmeichelt, diszipliniert und reduziert uns mit fliessenden Stoffen, engen Hosen und dezenten Anzügen. Was man uns verkauft, ist nicht einfach bunter Stoff und materialisierte Kreativität, sondern auch die Interpretation der Welt und des Kurses, auf dem sie sich gerade befindet. Wirtschaftswachstum lockert beim Mann den Krawattenzwang und die Eintönigkeit seiner Kleidung, Krisen bedeuten in der Regel Abkehr vom Spiel und Rückkehr zum Buchhalterisch-Korrekten. Und wenn man sich umschaut, und sich fragt, wie man (in der Mode) gegenwärtig die Lage der Frauen einschätzt, so muss man wohl Lilith Frey Recht geben: „Immer Kinder-Geburtstag. Die Mode macht Frauen klein.“ (Blick vom 16. März 2005). Mit viel Blümchen, Rüschen, Flügelärmelchen und Hängerchen statte man diesen Frühling die Frauen aus und mache aus ihnen Kinder. Wo die jungen Mädchen und Frauen, Lolitas gleich, mit ihren Reizen nicht geizen, verwandeln sich nun auch die erwachsenen Frauen in kleine Mädchen. „Das Bild von der Frau als herziges Kind mag dem Mann heute entgegenkommen. Kinder sind pflegeleicht, sie nehmen keinen Job weg und wollen keine Macht. In harten Zeiten des Stellenabbaus, wo Arbeit fast schon wieder Privileg ist, denkt der Mann an sich selbst zuerst. Damit die Frau nicht rebelliert, macht die Mode sie schon mal klein.“ Gesellschaftliche Prozesse sind gewiss komplexer und mehrdeutiger, doch ist diese neue Kindlichkeit nicht zu leugnen. Sie bietet jedenfalls genügend Stoff, um über unseren Status nachzudenken und zu beherzigen, was uns Lilith Frey am Schluss ihres Artikels rät: „erst recht – feministisch weiterkämpfen und nicht Kind spielen.“ Stoff hat noch ein anderes Gesicht. Er ist nicht bloss schöne Fassade als Tuch, Kleid, Hülle und Dekoration. Er hat auch einen schmutzigen Hinterhof: seine Produktion und die damit verknüpften Arbeitsbedingungen; jene schmutzige Spur, die beinahe überall auftaucht, womit wir es tagtäglich zu tun haben, ob wir uns anziehen, essen oder uns vergnügen. Es ist der Stoff, aus dem die Albträume sind, mehrheitlich jene der anderen. Bislang noch. Lesestoff dazu gibt es genug. Wenn wir es denn wissen wollen, liegt alles klar auf der Hand, kaum etwas ist verhüllt und uns entzogen. Dennoch ist der Wunsch nach gnädiger Verhüllung gross. Die nackte Wahrheit ist nur selten schön. Ein Rohstoff, den man gerne etwas bearbeitet hätte, damit er etwas einnehmender wird, erträglich und strapazierfähig. Enthüllungen beinhalten Sprengstoff, wenn es sich um die Mächtigen, Reichen und Schönen handelt. Wenn sie hinter dem für die Öffentlichkeit konstruierten Vorzeige-Ich das private hervortreten lassen, wenn sie es ent-larven und das reale Gesicht hinter der schützenden Maske aus Status, Geld, Privilegien und Macht aufscheinen lassen. Ansonsten ist das Ablegen von Hüllen in unseren Gesellschaften kein Problem. Kaum jedenfalls. Wie viel Stoff den Körper verhüllt, enthüllt, dekoriert, ist eine Sache der Modeindustrie und der einzelnen, deren Freiheit darin besteht, sich anzupassen, abzusetzen oder lächerlich zu machen. Schwierig wird es, wenn der Stoff nicht den Rückzug antritt und Busen, Bauch und Beine den Blicken freigibt, sondern, im Gegenteil, sich ausdehnt, Gebiete zurückerobert, die er einmal zwanghaft, manchmal auch gnädig verhüllte. Hautenge und knappe Kleider, nackte Bäuche und Dekolletés gelten hierzulande als Zeichen weiblichen Stolzes und Selbstbewusstseins und sind problemlos vereinbar mit Autonomie und Emanzipation. Es wird ja nicht die Haut zu Markte getragen, sondern die Lust am eigenen Körper gefeiert. Wer aber durchaus auch aus Gründen weiblichen Stolzes und mit dem Beharren auf der vielgepriesenen Autonomie sich ein Tuch um den Kopf schlingt, ist nichts weiter als ein bedauernswertes Opfer von Unterdrückung, Demütigung und männlicher Dominanz. Ob halb nackt oder züchtig verhüllt, der Begriff Freiheit bleibt in beiden Fällen des Fragens und Nachdenkens würdig! Allen gegenteiligen Beteuerungen zum Trotz ist der Verdacht nicht ganz von der Hand zu weisen, dass der Unterschied bloss darin besteht, dass sich die einen für Männer aus- die anderen für Männer anziehen. Mit Autonomie hat beides nicht viel zu tun. Stoff gibt unendlich Stoff her zu denken, zu grübeln, Verbindungen herzustellen, Geschichten zu erzählen, zu träumen, sich zu erinnern. Ein paar Fäden nur haben wir in diesem Heft herausgezogen aus der Fülle des Materials und der vielfältigen Textur, die es bietet.    

2005_2_Ganzes Heft als PDF