Inhaltsübersicht

Silvia Schröer
Erinnern, nicht vergessen

Roselies Taube
Revolutionär ist es schon

Li Hangartner
Die Haustafeln feministisch gelesen

Ruth Wirz
Gegen den Strom zur Quelle hin

Marianne Wallach-Faller
Eine jüdisch-feministische Hermeneutik der Heiligen Schriften

Die Bibel im wesentlichen sexistisch?

  • Barbara Stehle
    Aufbruch! Wohin denn?
  • Theres Spirig Huber
    Schmerz zulassen und Neues leben
  • Reni Huber
    Was will ich noch mit diesem hoffnungslos patriarchalen Christentum?

 Editorial

Wenn Frauen sich für ihre Befreiung in Kirche und Gesellschaft zu engagieren beginnen, kommen sie nicht darum her um, sich kritisch mit ihrer religiösen Tradition und deren Fundament, den heiligen Schriften, auseinanderzusetzen. So ist in den letzten Jahren eine intensive Beschäftigung christlicher und jüdischer Frauen mit den biblischen Schriften in Gang gekommen. Diese Auseinandersetzung von Frauen mit der Bibel ist nicht neu. Schon in der ersten Frauenbewegung ist die Bibel ‹zum Gegenstand der Kritik geworden, als Frauen erkannten, wie, sehr die Bibel zur Legitimierung und Stabilisierung des gesellschaftlichen und kirchlichen Patriarchats beiträgt. So hat beispielsweise bereits Ende des letzten Jahrhunderts die amerikanische Frauenrechtlerin Elisabeth Cady Stanton «A Womans Bible» («Frauen-Bibel») herausgegeben, in der die Frau en- Texte der Bibel gesammelt und aus der Sicht von Frauen kritisch kommentiert wurden. Diese Kritik von Frauen an der Bibel hat sich in der neuen Frauenbewegung fortgesetzt und verschärft. Für viele Feministinnen ist die Bibel ein hoffnungslos patriarchales Buch, das ausschliesslich männliche Erfahrungen spiegelt, von Gott in einer männlichen Sprache spricht und zur Ohnmacht und Zweitrangigkeit von Frauen in Kirche und Gesellschaft entscheidend beiträgt.

Diesem negativen Befund  setzen christliche Feministinnen den Versuch entgegen, die befreienden Traditionen innerhalb dieser zweifelsohne patriarchalen Bibel aufzuspüren. Es geht ihnen dabei nicht dar um, die Bibel als Befreiungsbuch für Frauen zu verteidigen, sondern ein Verständnis der Bibel zu erarbeiten, das es erlaubt, .die Bibel so zu verstehen und auszulegen, dass sowohl die unterdrückende wie auch die befreiende Funktion von Bibeltexten für Frauen deutlich wird. Eine solche feministische Lektüre und Bewertung der Bibel erfordert allerdings einen  Perspektivenwechsel. Da die Bibel ein  androzentrisches Buch ist, aus der Sicht und im Interesse  von Männern verfasst, gibt sie auch die biblische Geschichte aus der Optik von Männern wieder, einer Optik, welche die Bedeutung und Taten von Frauen ab zuschwächen versucht, Frauen an den Rand des Geschehens rückt und unsichtbar macht. Feministische Bibellektüre versuch(, diese androzentrische Sicht aufzusprengen und hinter dem, was über Frauen überliefert wurde, die Wirklichkeit von Frauen aufzuspüren. Durch diesen Perspektivenwechsel, der Frauen als Subjekte und nicht nur als Objekte der jüdisch christlichen Heilsgeschichte sichtbar zu machen sucht, hat feministische Bibelforschung in den letzten Jahren Ergebnisse zutage gefördert, die der Vorstellung der jüdischen und christlichen Glaubensgeschichte als einer reinen Männergeschichte widersprechen. «Erinnern, nicht vergessen»: Unter diesem Motto versucht eine feministische Bibellektüre die gesamte Bibel aus der bislang verdrängten Perspektive von Frauen neu zu lesen und zu beurteilen, die Mechanismen der Unterdrückung und Verdrängung von Frauen ebenso aufzudecken wie die wenigen, erhalten gebliebenen -Spuren von der Aktivität und Autonomie unserer biblischen Schwestern als unser Frauen Erbe wiederzugewinnen. Eines ist dabei gewiss: die Bibel ist und bleibt für Frauen ein ambivalentes Buch, ist Dokument der Unterdrückung und Quelle der Befreiung zugleich. Ob sich der für Frauen befreiende Strang unserer jüdisch-christlichen Tradition durchsetzen wird, dies hängt nicht nur von einer neuen Methode der Bibellektüre ab, sondern ebenso sehr von einer neuen kirchlichen Praxis, die dem Befreiungsimpuls der Bibel hier und heute zu seiner kirchlichen und gesellschaftlichen Konkretisierung verhilft.

Doris Strahm

1989_3_Ganzes Heft als PDF