Inhaltsübersicht

Ute Kessel
Steine auf dem Weg der Befreiung

Johanna Kohn-Roelin
Antijudaismus – Kehrseite der Christologie

Reinhild Traitler
Antisemitismus – der unheimliche Gast in unserem Denken

Gespräch zwischen Marianne Wallach-Faller, Carmen Jud und Barbara Seiler
Sonst komme ich mir vor wie ein Selbstbedienungsladen

Silvia Strahm Bernet
Dajenu – für uns ist es genug

Li Hangartner
Antisemitismus und Sexismus


Editorial

Betroffen von immer neuen Wogen des Antijudaismus/Antisemitismus bei uns in der Schweiz aber auch anderswo (Auschwitz, Carpentras, Basel, Leningrad … ), wuchs in uns im Laufe des Sommers 1990 das dringende Bedürfnis, uns näher damit zu beschäftigen, wo in uns selbst antijudaistische Samen, die je nach Umständen aufkeimen könnten, zu suchen sind, vor allem aber als christlich-feministische Theologinnen unser religiöses Erbe zu sichten, das beschämenderweise bis auf den heutigen Tag – trotz einiger Jahrzehnte jüdisch-christlichen Dialogs – Argumente und mehr noch: emotionale Nahrung für den Antijudaismus liefert. Noch immer stellen wir dem «Alten» Testament das «Neue» vor- an und es bleibt in der Rede von «Altem» und «Neuem» Bund die Wertung bestehen – um nur zwei von zahlreichen Beispielen zu erwähnen – täglich hundert- und tausendfach in christlichen Kirchen wiederholt, zelebriert, geglaubt. Auch die feministisch-theologische Bewegung ist trotz eigener Leidenserfahrungen und vielfältiger Bewusstseinsarbeit nicht davor gefeit, antijudaistische Argumente fortzuführen (zum Beispiel in der Kontrastierung der dunklen, patriarchalen, jüdischen Umwelt und der erhellenden bzw. befreienden Praxis Jesu – vor allein den Frauen gegenüber).

Zweifellos ist der Antijudaismus der christlichen Religion bzw. dessen Einfliessen in gesellschaftspolitische Strukturen als Antisemitismus traurige Wurzel für das, was Marcel Ophüls – Regisseur des Films «Hotel Terminus» – folgendermassen umschrieben hat: «Antisemitismus ist – wie man immer nieder und nun endgültig feststellen kann – eine echte Volksbewegung. Nicht nur die Konsummanager, sondern wohl auch die Literaten, die Dichter und Denker, die geholfen haben, die Protestbewegungen der sechziger Jahre in kommerziell ausschlachtbaren Hedonismus abzuwandeln, sind mitverantwortlich für die makabren Perversitäten in Carpentras und anderswo. Es ist in der ganzen Welt – in Südfrankreich wie in Polen, Litauen und Sowjetrussland, eine echte Volksbewegung. Es ist die fast zwangsläufige Begleiterscheinung zu nationalen Selbstbehauptungen.» (TA 30.5.90).

Jetzt, im Januar 1991 beim Verfassen dieses Editorials, hat das Thema unerwartet auf grässliche Weise neue Brisanz. Der Staat Israel wird bombardiert, jüdische Menschen, die dort leben, sind heute wieder an Leib und Seele bedroht, sind dazu verdammt, stundenlang, mit einer Gasmaske vor dem Gesicht, die Angst vor einem Giftgasangriff auszuhalten, gequält von peinigenden Assoziationen zur Vergasung im Dritten Reich. Israel ist bedroht; Israel ist bis an die Zähne bewaffnet; «Israel wird zurückschlagen», hören wir, Israel aber zögert …Wie stellen wir uns dazu? Und wie stellen wir uns zur israelischen Politik den PalästinenserInnen gegenüber?

Ertappen wir uns nicht in einem ständigen Hin- und Hergerissensein zwischen einer heimlichen Bewunderung für dieses Volk und einer distanzierten Abscheu seiner Politik gegenüber (die wir aber nicht zu äussern wagen, uni nicht als antisemitisch zu gelten)? Ist eine Stellungnahme für uns überhaupt möglich? Verlangen wir nicht insgeheim von den ehemaligen Holocaust-Opfern, dass sie heute nicht zu Tätern werden dürfen? Landen wir mit dieser Haltung in jener Sackgasse, die Arthur Cohn, Filmproduzent und Journalist, so umschrieb: «Friedliebende Moralisten, die sich vom angeblich kriegsbrünstigen Israel distanzieren, mögen kurzfristig einen guten Eindruck machen. Auf lange Sicht aber unterstützt solche Kritik indirekt und ungewollt antiisraelische Aktivisten, die das eigentliche Existenzrecht Israels in Frage stellen.» (weltwoche 29.6.89).

Der Frieden im Nahen Osten ist weiter entfernt denn je. Drei grosse Religionsfamilien sind in den Krieg verwickelt, der zwar am Schauplatz «Golf» bzw. «Naher Osten» ausgetragen wird, aber weltweit gespiesen wird (nicht nur durch Kapitalinteressen, Ressourcensicherung und Waffenexporte usw., sondern auch durch zunehmenden Fundamentalismus, Rassismus, Sündenbockdenken und Antijudaismus …) und so täglich unspektakuläre Kriegsschauplätze kennt wie Grabesschändungen jüdischer Menschen, offene und subtile Diskriminierungen bestimmter Volks- und Religionsgemeinschaften usw.

Bleibt da eine Hoffnung auf Verständigung, auf Toleranz, auf Gespräche (wie zum Beispiel das zwischen der palästinensischen Christin Soumaya Farhat-Naser, Dozentin für Botanik an der palästinensischen Universität von Bir Zeit in den besetzten Gebieten, und der Jüdin Rahel Freudenthal, Historikerin, ehemalige Offizierin, heute Friedensfrau)? Hoffnung auf Frieden – Frieden, der von uns ausströmt, der von unserer Mitarbeit an der Veränderung hiesiger gesellschaftlicher Strukturen ausgeht und der von einer praktizierten Religiosität ausstrahlt, die auf der Achtung Andersgläubiger bzw. Anderslebender basiert?

Monika Hungerbühler

1991_1_Ganzes Heft als PDF