Inhaltsübersicht
Helga Kuhlman
Abschied von der Perfektion
Zur gegenwärtigen Bedeutung von Rechtfertigungstheologie
Silvia Strahm Bernet
Du darfst …
Denise Buser
Dürfen müssen
Eine neue Frauendisziplin
Theres Spirig-Huber
Können hätten wir schon wollen
Oder die Qual der Wahl
Monika Hungerbühler, Jacqueline Sonego Mettner
«Ich möchte alt und dick werden»
Ein Gespräch zum Glück
Gabriele Kieser
Von der Freiheit zum Zwang
Nachdenken über Rechtfertigung und Arbeitsethos
EDITORIAL
«Du darfst», ein Thema für die FAMA? Heisst so nicht diese Margarine? Richtig. Die Margarine mit dem Namen, der die Freiheit des ungehinderten Geniessens ohne negative Auswirkungen auf die schlanke Linie preist. Mehr dazu in der Glosse von Silvia Strahm Bernet. Selbstverständlich können wir Theologinnen es nicht lassen, das Dürfen kritisch unter die Lupe zu nehmen und damit das heute möglich und nötig gewordene Wählen in allen Bereichen des Lebens nach darin versteckten alten und neuen Zwängen zu erforschen. Und wir fragen, ob in dieser Situation des andauernden sich Entscheidenmüssens und des nicht nachlassenden Druckes nach Perfektion, angefangen bei der schlanken Linie bis hin zum perfekten Management von Beruf Familie, Karriere und Partnerschaft, ob mitten in diesen verzehrenden Ansprüchen die alte paulinische Theologie der Rechtfertigung gerade für Frauen eine besondere Aktualität hat und befreiend wirken könnte. Helga Kuhlmann bejaht diese Frage in ihrem Beitrag «Abschied von der Perfektion». Trotz der berechtigten feministischen Kritik an einer Rechtfertigungstheologie, welche Frauen klein und unmündig machte, will sie am Kern festhalten, dass nämlich unsere Würde und Liebenswürdigkeit nicht durch irgendein Tun oder Lassen oder Sein oder Wählen unsererseits bedingt ist, sondern unverdient gegeben ist. Im Vertrauen auf die liebende, wertschätzende Stimme Gottes könnten so Frauen Selbstsicherheit und Unabhängigkeit von den erdrückenden inneren und äusseren Erwartungen gewinnen. Was bin ich denn noch wert, wenn ich nicht mehr arbeiten kann? Diese traurige Frage meines bettlägerigen Grossvaters spiegelt die Koppelung von Arbeitsfähigkeit und der eigenen Wertschätzung, wie sie in vielen Köpfen, auch feministisch-theologischen, anzutreffen ist. Gabriele Kieser verfolgt die Linie vom befreiten Aufatmen Martin Luthers, der sich die Anerkennung durch Gott gerade nicht länger erarbeiten muss, über die puritanische Vorstellung von Wohlstand als Zeichen göttlicher Erwählung und Segens bis hin zu der heute verbreiteten Abhängigkeit des Selbstwertgefühls von Lob und Tadel. Sie schlägt die Lösung von dieser unheilvollen Koppelung vor mit einer überraschenden und grossherzigen Vorstellung von Gott. Hilft diese feministische Aneignung der Rechtfertigungslehre mit der aus ihr folgenden Unabhängigkeit von Erwartungen und Perfektionszwängen nun tatsächlich bei der Qual der Wahl? Entscheiden müssen wir uns andauernd im Dschungel der Möglichkeiten, Chancen und Fallen von Berufstätigkeit und Karriereplanung, Familienleben und Partnerschaft, freiwilligen und ehrenamtlichen Engagements. Warum quälen sich Frauen so oft mit ihren Entscheidungen oder vermeiden sie ganz und vertrauen stattdessen auf die Fügungen des «Nehmen, wie es kommt» und aus allem das Beste machen? Theres Spirig-Huber kennt die Lebenskraft auch dieser Haltung und hält den Entscheidungsscheuen trotzdem kritisch den Spiegel vor: Der Wunsch, es allen recht zu machen, (von allen gemocht zu werden?) behindert klare Willensäusserungen und Entscheidungen. Ebenso der Wunsch, nichts falsch zu machen und stets schuldlos da zu stehen. Eine Zentrale Selbstbehinderung ortet sie darin, dass viele Frauen meinen, ihren Wunsch nach Vereinbarkeit von Familie und Beruf allein organisieren zu müssen und zwar so, dass niemand sonst dadurch gestört wird. Dabei ist dieser Wunsch und seine optimale Realisierung ein Wir-Problem mit der Schlüsselfrage: Wie lösen wir das gemeinsam? Dazu kommen immer noch die äusseren Behinderungen, nämlich die mangelnden Massnahmen im heutigen gesellschaftlichen System, wie Horte, Krippen, Weiterbildungsmöglichkeiten, Teilzeitstellen im Kaderbereich, Steuererleichterungen für Kinderbetreuende, die eine echte Wahlfreiheit unterstützen würden. Ich meine: Eine feministisch angeeignete Rechtfertigungslehre könnte frau darin unterstützen, nicht in jeder Entscheidung gleich eine Frage der innersten Identität zu sehen, etwas leichtfüssiger «tapfer zu sündigen». Wenn die Frage der Wertschätzung und Anerkennung, das grundsätzliche Geliebtsein nicht daran hängt, ob ich nun als ‹Nur-Familienfrau› oder als ‹Erwerbs- und ‹Familienfrau› oder als ‹Nur-Berufsfrau› lebe, dann kann ich nüchterner und unbelasteter überlegen, was mir wichtig ist, was zur Zeit nötig ist, welche Veränderungsmöglichkeiten und Unterstützungsangebote zur Verfügung stehen. Und ich sehe grosszügiger und ohne zu verurteilen auf die andern, die anders entscheiden als ich. Wie kommt es, dass trotz jahrzehntelangem Engagement für die Gleichstellung zwar vieles anders geworden ist, aber doch Entscheidendes nicht erreicht wurde? Sprich: die gläserne Wand nach oben nicht durchstossen worden, die breite Solidarität unter den Frauen erlahmt ist und die Witwenrente plötzlich als ein unbegründetes Privileg erscheint. In einem fiktiven Gespräch zwischen einer älteren Frau, die von einem absoluten Gerechtigkeits- und Gleichheitsgedanken ausgeht, und einer jüngeren Frau, die wie Aristoteles von einem relativen Gerechtigkeitsbegriff spricht, weist die Juristin Denise Buser auf dass es keine wirkliche Gleichstellung geben kann, ohne die «Mondlandung Kind» in das Denken und Tun mit einzubeziehen. Geschieht das nicht, wird aus dem neuen Dürfen leicht ein Müssen und profitieren letztlich paradoxerweise die Männer von den Gleichstellungsforderungen. Das wirbelnde, anstrengende Dürfen karikiert Silvia Strahm Bernet in ihrer Glosse, hintergründig komplettiert mit der unausgesprochenen Frage nach dem nötigen Mass, der Grenze oder dem Inhalt eines zu dürfenden Himmelreiches. Zunehmendes Dürfen und abnehmendes Glück? Oder was ist das Geheimnis eines glücklichen Lebens? Das fragen sich Monika Hungerbühler und Jacqueline Sonego Mettner in ihrem Gespräch. Zum Glücklichsein gehört auch die Erfahrung, gebraucht zu werden und etwas bewirken zu können. Das wäre dann der andere Teil der Rechtfertigungslehre: das Wissen, dass es nicht egal ist, was wir tun und welche Werte wir wählen. Nicht wegen der Anerkennung und dem Selbstwertgefühl, sondern wegen dem zu schützenden und zu feiernden uns anvertrauten Leben.
Jacqueline Sonego Mettner