Inhaltsübersicht
Kathy Zarnegin
Begehrend gierig im Zeitalter des Designgeschlechts
Irmtraud Tarr
Gier nach Anerkennung
Gina Schibler
Genug ist nie genug!
Lebensgier als Urkraft und Gefährdung
Heidi Schlebert-Syfrig
Beschränkung als Tugend?
Helga Kohler-Spiegel
Erlebniszwang
Eine Herausforderung für die Religionspädagogik
Lisa Schmuckli
Was wir sehen blickt uns an
Gieriges Sehen und neugieriges Berühren
EDITORIAL
Ja, Sie haben richtig gelesen! «Gier» lautet der Titel unserer neusten Nummer. Nicht abgefedert und weichgezeichnet als Begierde, noch nicht differenziert, untertitelt und aufgefächert in Neugier, Verlangen, Begehren, gieriges Sehen, begehrendes Schauen, Haben-Wollen, Begierlichkeit usw. Nein, «Gier» heisst der Titel dieses Heftes, und der Begriff «Gier» leitete uns zunächst bei unserer Diskussion. Nackte Gier. Ungezügelte Gier. Unmässige Gier. Sicher, «Gier» klingt unkultiviert, man assoziiert nichts Behagliches, Schönes mit ihr. Bilder vom offenen, geifernden Maul (nicht Mund), der viel und immer mehr in sich hineinstopft, springen uns an, die raffenden Hände, der habgierige Blick. Gier ist auf ein Objekt bezogen, Gier will befriedigt sein. Gier klingt animalisch, sinnlich, obsessiv. Bei der Gier liegt nicht der lichte Verstand oben, sondern ein dunkles Darunter das zu Entscheidungen und Taten drängt. Wie bei einem gewölbten, glatten Stein, den man von der Erde aufhebt und an dessen Unterseite man die Schnecken und Würmer und den daran klebenden Dreck sieht. Gier. Aber wer bringt sich selbst in Verbindung zur «Gier»? Bin ich gierig? Sind Sie gierig? Wann? In welchem Grad? Und in welcher Hinsicht? Man ist doch in der Regel massvoll, kennt seine Grenzen, schlägt kaum einmal über die Stränge. Und doch bewegen wir uns in den Strukturen der Gier haben Anteil an ihr profitieren von der Gier anderer, ertappen uns zuweilen selbst als Gierige. Was zuvorderst liegt, ist der masslose Konsum, der extreme Materialismus, in dem wir leben: das Vorweihnachtsgeschäft ist trotz (oder vielleicht gerade wegen) Terror und Katastrophen so gut gelaufen wie seit langem nicht mehr – auch an den verkaufsoffenen Sonntagen. Und kaum sind die Weihnachtsglocken verklungen, häufen sich Berge von Fasnachtsküchlein in den Läden und der Ausverkauf lädt ein zum gierigen Wühlen und Kaufen. Vor wenigen Tagen ist das Weltwirtschaftsforum (WEF) in New York zu Ende gegangen. Auf dem Bundeshaus-Platz in Bern haben 24’000 Kerzen gebrannt, die den Blick auf die «übersehenen Frauen, Männer und Kinder» gelenkt haben, «die täglich an den Folgen der Armut sterben», wie es in der Einleitung zum Davoser Manifest heisst. MitarbeiterInnen der Bethlehem Mission Immensee, die dieses Manifest herausgegeben haben, sind in der Schweiz und in zahlreichen anderen Ländern der Welt durch ihre Arbeit mit Menschen verbunden, die «arm sind, die aus rassistischen Motiven, kulturell, religiös oder als Frauen unterdrückt sind… Sie erfahren täglich, dass immer mehr Menschen infolge der Globalisierung des neoliberalen Kapitalismus in unwürdigen Verhältnissen leben.» (Davoser Manifest). Die Kerzen auf dem Bundeshausplatz lenkten so den Blick auf die Strukturen der Gier in die wir als SchweizerInnen verstrickt sind. Sie leuchteten aber auch für uns als Ermutigung zur inhaltlichen Kritik «an sämtlichen politischen, kulturellen, wirtschaftlichen und religiösen Facetten des neoliberalen Kapitalismus», in denen wir leben. Gier (zusammen mit Geiz) ist eine der sieben Todsünden neben den sechs anderen wie Eifersucht/Neid, Eitelkeit/ Stolz, Jähzorn, Wolllust/Unkeuschheit, Völlerei/Trunksucht und Schwermut/ Melancholie. Theologisch nachhaltig hat sich der Heilige Augustinus mit den Facetten der menschlichen Sündhaftigkeit, Lasterhaftigkeit und insbesondere der Begierlichkeit befasst. Die sogenannte «concupiscentia», die böse Begierde, ist laut Augustinus Folge des Verlustes der Gnade, geboren aus dem Sündenfall im Paradies. Die Begierlichkeit manifestierte sich für Augustinus vor allem in der fleischlichen Gier d.h. der Wollust und der sexuellen Begierde, wird aber auch offenbar als Gier nach Speise und Trank und der Überschreitung des Masses, als Lust der Augen, als Reiz des sinnlichen Schönen, als eitle Wissbegier, Vorwitz und Neugier, als Lust am Beifall und als gefährlicher Reiz des Gehörsinns. Das Konzept der bösen Begierde bzw. Begehrlichkeit des Menschen wurde Grundlage für einen viele Jahrhunderte andauernden Sexualpessimismus und ein Menschenbild (insbesondere Frauenbild), das als sündig, gefesselt von Gier und allein auf göttliches Erbarmen verwiesen, definiert ist. Aber FAMA wäre nicht FAMA, wenn zum Thema «Gier» neben den negativen nicht auch zahlreiche positive Gedankenäste und -ästchen, noch mehr Wurzeln (auch Wortwurzeln) und Blätter schliesslich auch mögliche Früchte benannt, diskutiert, hinterfragt, zusammengedacht und wieder neu geordnet und betastet und geschmeckt worden wären. Zahlreiche Fragen stellten sich uns: Wo kippt starkes, heftiges Wünschen und Begehren in Gier um? Gibt es da überhaupt eine Trennlinie? Sind es zwei Weisen auf die Welt zuzugehen, Zugriff auf sie zu nehmen, sie sich anzueignen? Weiter: Stand am Beginn des Zeitalters der Aufklärung die Gier und/oder die Neugierde, etwas Neues zu sehen, zu denken, kennen zu lernen und zu erleben (erinnern Sie sich an Eva, die die Frucht nahm)? Wie ist die Erlebnisgier heutiger Menschen (nicht nur der Kinder und Jugendlichen) nach immer neuen Kicks und Events zu bewerten? Wie erziehe ich meine gierigen Kinder in einer gierigen, unmässigen Welt? Was spielt sich ab bei der Gier nach Gesehen-Werden, beispielsweise an der Love-Parade oder im «Big-Brother-Container»? Wie ist der neue Trend nach Mässigung und Masshalten zu bewerten? Wer predigt wem masshalten? Wer hat ein Interesse am Masshalten und Beschränkung als neuer Tugend? Sie ist allseits sichtbar, fühlbar ertastbar, die Gier: die Gier nach Macht, Geld, Sex, die Gier nach Gold, Fleisch, nach Konsumgütern; das Kippen von der Gier in die Sucht… um nur einige Stichworte zu nennen. «Gier» scheint ein Begriff zu sein, der zunächst sehr viele negative Assoziationen hervorruft, der aber andererseits von seiner Wortwurzel her auf die dem Menschen innewohnende Kraft des Begehrens und Verlangens hinweist (mittelhochdeutsch: «gir(e)»). So zeigt das Titelbild das vergrösserte Augenpaar einer neu-gierigen, interessierten, begehrenden Frau und verweist damit auch auf diesen anderen Aspekt der Gier der in den verschiedenen Artikeln des Heftes differenziert und aufgefächert wird: So geht es um Gier bzw. Begehren als ursprüngliche seelische Grundkraft, sowie um das Verlangen, wahrgenommen, anerkannt und gesehen zu werden; es geht um das hebräische Wort «nefesch» mit seiner Bedeutung: Seele-Kehle-Gier um die Beschränkung ausbeuterischer Gier in Bezug auf unsere Umwelt, um das Lauschen hinter die Erlebnisgier junger Menschen, und es geht um gieriges Sehen und neugieriges Berühren.
Monika Hungerbühler