Inhaltsübersicht
Das wohl bedeutendste Gebet des Christentums hat viel an Selbstverständlichkeit verloren. Einst schon im Kindesalter auswendig gelernt, geht es zwar oft (noch) leicht von den Lippen – selbst nach jahrelanger Distanz zu Kirche und Gottesdienst. Aber es gibt einiges, was heute nicht mehr so einfach nachvollzogen werden kann. Die Fragwürdigkeiten beginnen schon mit der Anrede Gott*es: Wie lässt sie sich mit unterschiedlichen Vater-Bildern und -Erfahrungen vereinbaren? Welches könnte eine stimmigere Gott*esanrede sein? Darf der Wortlaut dieses uralten Gebets überhaupt hinterfragt oder gar verändert werden? Diesem möglichen Stolperstein folgen mehrere andere. FAMA macht sich Gedanken, dröselt auf und verortet das Gebet in heutige Kontexte.
Inhaltsübersicht
- Tania Oldenhage
Unser Vater im Himmel
- Esther Kobel
Im Grunde ganz jüdisch
Über die Wurzeln des Unservaters
- Angela Wäffler-Boveland
Unterwegs mit dem UnserVater - Jacqueline Sonego Mettner
Ein Gebet wie ein Haus*
- Isabelle Deschler
Schuldendrama
- Magdalene L. Frettlöh
«Und führe uns nicht in Versuchung…»
Die abgründigste Unservater-Bitte?
- Die FAMA-Redaktorinnen
Denn dein ist die Zärtlichkeit
Kreativität und Widerstand im Gebetsabschluss
* Dieser Artitkel ist auf famabloggt.wordpress.com
Editorial
Bis heute habe ich Mary Dalys Stimme im Ohr. Wenn sie über „Gottvater“ sprach, war es wie ein Donnerwetter. Mary Daly – eine der grossen Feministinnen des 20. Jahrhunderts – war in der Lage, den ganzen Groll einer Generation in diese christliche Gottes-Anrede zu packen. Sie sprach das Wort „God“ nicht, sie spuckte es aus. Damit inszenzierte sie ihre Verachtung gegenüber all dem, was das patriarchale Gottesbild Frauen angetan und unterstellt hat. „Jenseits von Gott Vater“ wurde auch in der Schweiz zu einem Motto, sich von dieser Art von Gottesrede zu verabschieden.
Mary Daly lebt nicht mehr. Und wir – die FAMA – sind offensichtlich immer noch im Bann vom Vatergott. Feministische Theologinnen in Pfarreien und Kirchengemeinden beten das Unser Vater munter und fast täglich und fast so als wäre nichts gewesen. Natürlich: Wir beten innerlich im Widerstand, schmuggeln hier und da ein Wort ein, stellen neben den „Vater“ manchmal auch die „Mutter“, ersetzen die „Herrlichkeit“ mit „Zärtlichkeit“, theologisieren uns die patriarchalen Bilder so zurecht, dass wir mit ihnen leben können. Hat uns das kollektive christliche Gedächtnis so dermassen im Griff, dass wir das alte Gebet nicht hinter uns lassen können? Oder steckt in diesem alten Gebet etwas, das uns so wichtig ist, dass wir es nicht aufgeben wollen?
Die Artikel in diesem Heft zeigen jedenfalls, wie gross das Spagat ist, feministisch das Unser Vater zu beten. Ambiguitätstoleranz nennt man die Fähigkeit, mit widersprüchlichen Erfahrungen und Situationen umgehen zu können. Wir haben für dieses Heft eine Bildstrecke gewählt, die uns ebenfalls in eine ziemlich grosse Spannung hineinführt. Es sind Bilder von Bildern von Bildern, die wiederum etwas darstellen, was für die Betrachterin nicht greifbar ist. So ist auch der „Gottvater“ ein Bild von einem Bild von einem Bild, und was dahinter steht – wir können es nur ahnen.