Inhaltsübersicht
Jacqueline Sonego Mettner
Kein Leben ohne Löcher
Lob der Löchrigkeit von Menschen und Gott
Esther Fischer-Homberger
Die Frau als Loch
Denken im Universum der Väter
Heidi Witzig
Das Loch im Bauch
Brigitt Kuhn
Flugloch für die Seele
Sterbe- und Totenbräuche in der Schweiz
«Ein Loch ist da, wo etwas nicht ist»
Eine Textcollage
Dorothee Dieterich
Die Suche nach dem Loch im Loch
Irina Bossart
Loch des Heils, Loch des Unheils
Geschichten einer (Kultur-)Landschaft
Silvia Strahm Bernet
Schlüssellochgesellschaft
Oder: Von der gnadenlosen Gewöhnlichkeit
EDITORIAL
Loch als Thema einer feministisch-theologischen Zeitschrift – sind wir denn von allen guten Geistern verlassen? Eine von uns angefragte Autorin schrieb: «Ehrlich gesagt, ruft der von Ihnen vorgesehene Titel für das neue Heft bei mir eher unangenehme Assoziationen – derbe Witze etc. hervor, doch ist das Thema als solches hoch interessant, besonders aus tiefenpsychologischer und symbolgeschichtlicher Sicht.» Die Absage der Autorin erfolgte trotz der unangenehmen Assoziationen aus terminlichen Gründen Welcher Teufel hat uns bei der Themenwahl geritten? Fasziniert hat uns die Vieldeutigkeit von Löchern, die Breite von negativen und positiven Bedeutungen, je nachdem, worauf der Blick in erster Linie fällt: Auf die Öffnung als möglicher Ein- oder Ausgang ins Loch, auf das Loch selber als Aussparung, Lücke, Mangel, als Gefängnis oder Durchgang, oder aber als Lebensraum, z.B. bei einer Höhle oder bei der Gebärmutter. Damit ist auch schon klar dass ein Loch keineswegs nur da ist, «wo etwas nicht ist» (Tucholsky). Loch wurzelt etymologisch in einem gemeingermanischen Verb mit der Bedeutung «verschliessen, zumachen» – und einen Verschluss braucht es ja gerade da, wo etwas entweichen könnte, aber nicht oder nur dosiert entweichen sollte oder gar gänzlich unter Verschluss gehalten werden soll. Deckel drauf! Neben ‚Verschluss› sind denn auch die ursprünglichen Bedeutungen des Wortes ,Versteck, Höhle, Loch, Gefängnis›. Ist es das, was versteckt, gefangen oder unter dem Deckel gehalten wird, was dem Loch seinen schlechten Ruf einträgt? Wie eine unter Verschluss gehaltene Wahrheit männliches Denken dazu führen kann, Frauen auf Löcher zu reduzieren, davon handelt der Beitrag von Esther Fischer-Homberger Das Loch in diesem Denken, so lautet ihre These, ist die ausgeblendete Gebärmutter und damit letztlich die Mutter. Sind es unter Verschluss gehaltene Wahrheiten, die uns bei Löchern an Abgründe, Eingesperrt-Sein, Verschlungen-Werden und Angst denken lassen? Ein Grab ist ein Loch, auch ein Gefängnis oder eine schlechte Wohnung. Wem es schlecht geht, die fällt in ein Loch, das Januarloch haben wir jetzt gerade wieder hinter uns, das Sommerloch plagt die Journalistinnen und löchrige Kleider oder ein Loch im Bauch sind Zeichen von Armut. Davon, wie auch bei uns frühere Generationen mit diesem Loch im Bauch gelebt haben, erzählt Heidi Witzig. Über Nahrungszuteilung und Nahrungsentzug wurde (und wird?) Zuneigung oder Ablehnung vermittelt. Von abgründigen Löchern geht auch Irina Bossart aus, von Gewässern, in denen Ungeheuer hausen sollen, und Strudeln, die Menschen verschlingen. Daneben entdeckt sie in der (Kultur-) Landschaft Löcher des Heils, denen Wunder zugeschrieben werden. Abgrund und mögliche heilsame Aspekte liegen beim Loch als Leere, als Ausgespartes, als Nichts oder als Ort, wo Neues entstehen kann, nahe beieinander. Das Nichts, die Leere als Abwesenheit auch von Gott kann negativ oder positiv erlebt werden, als Verlassensein oder als kreative Leere, in der Schöpfung erst möglich wird, wie die Texte von Jean-Paul und über die jüdische Kabbala in der Text-Collage in der Heftmitte zeigen. Damit ist eine weitere Möglichkeit eröffnet, wie Löcher verstanden werden können: als Durchgänge und Übergänge von einem zum andern, die das Bedrohliche mit dem Heilsamen verbinden. So gelangt etwa Alice im Wunderland durch die Höhle des Kaninchens ins Wunderland, und im Märchen von Frau Holle findet Goldmarie durch ihren lebensgefährlichen Sprung in den Brunnen den Zugang zu einer anderen Welt. Abgründige, dunkle, gefährliche Löcher haben nicht nur einen Eingang sondern auch einen Ausgang, ein Loch im Loch›, wie Dorothee Dieterich schreibt. Doch sie müssen sich finden lassen, und die Suche danach ist oft nicht einfach. Wer im Loch sitzt, die sieht kaum die heilsamen Aspekte des Lochs und kann dem Gang in die Tiefe kaum eine spirituelle Dimension abgewinnen. Spirituelle Löcher in einem ganz anderen Sinn sind die ‚Seelenfenster›, von denen vielerorts im Zusammenhang mit Sterbebräuchen die Rede ist, Die Ethnologin Brigitte Kuhn berichtet von Mythos und Realität bei den ‚Seelebalgga›, den walserischen Fluchtlöchern für die Seele. Nicht der Flucht, sondern dem Durchblick dient (unter anderem) das Schlüsselloch, durch das wir schauen können ohne gesehen zu werden. In der Schlüssellochgesellschaft aber werden wir, so Silvia Strahm Bernet, selber zu Löchern, die alles Neue in sich saugen und sei es noch so banal. Gegen das grenzenlose Schauen und Zurschaustellen wäre das Schlüsselloch schon fast wieder ein bescheidenes Mass. Von Löchern, die regeln, was hineinkommt und was herausgeht, ist auch die Rede im ersten Artikel des Hefts. Jacqueline Sonego Mettner bedenkt darin die Wichtigkeit der menschlichen Körperöffnungen, als Ein- und Ausgang von komplexen Systemen wie z.B. der Verdauung. Loch ist also nicht gleich Loch, sondern unendlich vielfältig, Bei so vielen Möglichkeiten braucht es natürlich Mut zur Lücke. Leisten wir uns diesen Luxus (das ‚Abgedrehte›, vom Normalen Abweichende), der über die Wurzel ‚leugbiegen, winden, drehen› mit Loch, Luke und Lücke verwandt ist!
Ursula Vock