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Inhaltsübersicht

Hildegard Keller
Leere und Fülle
Splitter aus der Geschichte der Sinnlichkeit

Nancy Cardoso Pereira
Ah! … köstliche Liebe …

Doris Strahm
Sinnlichkeit und Erkenntnis
Eine Text-Collage

Marianne Biedermann
Sinnverlust und sinnliche Wahrnehmung
Gedanken einer biederen Schweizer Psychotherapeutin

Silvia Strahm Bernet
Mehr Sinnlichkeit im Gottesdienst!?
Traditionelle Gottesdienste und Frauengottesdienste im Sinn(en)wettbewerb?

Marianne Vogel Kopp
Weisheit hautnah


  Editorial 

Stellen wir uns vor, wir müssten einige Kilometer über eine schnurgerade, ebene, hindernisfreie, hell ausgeleuchtete Betonstrasse marschieren. Am Ende der Strecke werden wir ermattet sein. Wie anders wäre unsere Empfindung, wenn wir durch den Wald gehen würden: verschlungene Pfade, Wurzeln, Rinnsale, wechselvolles Licht. Es duftet nach Waldboden, nach Kräutern: Geräusche von überall her. Vogelgezwitscher. Am Ende des Weges werden wir uns erfrischt fühlen, befriedigt, wie neu geboren. Was ist geschehen? Im Wald sind wir mit Leib, Körper, Seele und Sinnen angesprochen und beansprucht -wir fühlen uns belebt und lebendig. Mit diesen Gedanken ermutigte Hugo Kückelhaus (1900-1984) dazu, die eigenen Sinne zu gebrauchen, sie zu fördern. Im September letzten Jahres ist aus seinem Lebenswerk ein naturkundliches Spielwerk mit rund 40 Stationen realisiert worden, das zum Entdecken der Sinneswelt einlädt: das «SENSORIUM» in Frauenfeld. Die Besuchenden erfahren, wie das Auge sieht, das Ohr hört, die Nase riecht, die Haut fühlt, die Finger tasten, der Fuss versteht, die Hand begreift, das Blut pulst, der Körper schwingt. «Die Gesetzmässigkeiten der Natur verbinden sich mit der eigenen Leiblichkeit. Aus solchen Wahrnehmungen ergeben sich beglückende Erkenntnisse und facettenreiche Anregungen zur Lebenspraxis in allen Bereichen unserer Lebenskultur», heisst es in einer Medieninformation zur Ausstellung. Die sinnenhafte Wahrnehmung, so vermittelt es die Ausschreibung, ermöglicht Lebensorientierung, Lebendigkeit, Sinn.

Leben mit allen Sinnen und Sinnlichkeit wird im Zeitalter der virtuellen Begegnungswelten ein echtes Bedürfnis: Tango- und Salsa-Boom und die Verkaufskonzepte der Nobeleinkaufsläden, bei denen ein Lebensmitteleinkauf zum Sinnenfest wird, sprechen Bände. Aber ist die Offenheit der Sinne wirklich so erstrebenswert ist in einer Welt, die von optischen Reizen überflutet wird? In der das Verdrängen zu einer Zivilisationsleistung geworden ist, um mit der Unmengen an Information und Reizen umgehen zu können? Braucht eine Offenheit der Sinne nicht auch die Möglichkeit, verweilen, nachspüren zu können? Zeit zu haben? Etwas nachgehen können, eine Erfahrung nachklingen lassen – erst das vermittelt Sinn. Interessanterweise birgt das Wort «Sinn» in seinen sprachlichen Wurzeln das germanische sinÃa (=gehen) welches zum althochdeutschen sinnan (=reisen, gehen, streben) wird . Das physische Gehen entwickelt sich im neuhochdeutschen «sinnen» in der übertragenen Bedeutung zu einer psychischen Bewegung: geistig oder gedanklich sich einer Sache oder einem Problem zu nähern, einer Sache, einem Gedankengang zu folgen. Im Mittelalter entwickelten sich zwei Begriffe des Wissens: Zum einen die Sciencia, die Wissenschaft und zum anderen die Weisheit, Einsicht, das Verstehen, die Sapientia, die sprachlich auf sapere also auf die sinnliche Tätigkeit des Schmeckens oder Riechens zurückgeht. Diese Art und Weise der Lernens und Erfassens der Wirklichkeit ist keine mechanische oder analytische, sondern eine zuhörende, nachspürende, hineinfühlende. Die Mystik dieser Zeit spricht von der «inneren Sinnlichkeit»: Die äusseren Sinne gewinnen an Bedeutung für ein inneres Sinnen, das das Bedeutungsvolle und Göttliche – im Verständnis der Welt als Buch Gottes – in allen Dingen sucht . «Alles Wissen wurzelt in unserer Sinnlichkeit. Wir kennen und bewerten die Welt, wenn wir sie kennen und bewerten, durch unsere Fähigkeit, zu berühren, zu hören und zu sehen . Wahrnehmung ist grundlegend für das Begreifen. Ideen hängen von unserer Sinnlichkeit ab.» (Berveley Harrison) Der Verlust der Verbindung zu unseren Körpern kann in der Produktion von Wissen und Moral verheerende Folgen haben: Es ist ein gefährliches Wissen – das reine Kopfwissen. Die Abspaltung des Körpers auf der Suche nach Sinn und Erkenntnis ein gefährliches Unterfangen. Die ambivalente Haltung gegenüber dem Körper zieht sich durch das christliche Denken hindurch: Wie leicht Körperoptimismus und Körperskepsis ineinander umschlagen können, führt Elisabeth Keller aus. Beim Vergleich ihrer psychotherapeutische Arbeit mit der einer srilankischen Dämonenmeisterin macht Marianne Biedermann deutlich, wie die Überwindung des westlich-dualistischen Reinheitsgedankens ein wesentlicher Teil eines Heilungsprozesses ist, der zur Integration der gesamten Wirklichkeit führt. Heilung geschieht beispielsweise, wenn eine magersüchtige Frau das Gefängnis der Reinheit in kleinen Schritten verlässt und sich in eine Welt voller Dämonen aber auch voller Lust und Sinnlichkeit hineinwagt. Wie und wo gelingt es, die Sinne in die Sinnproduktion der Theologie einzubeziehen? Entgegen dem gängigen Ruf nach Körperlichkeit, Austausch, Gefühl und Authentizität im Gottesdienst räumt Silvia Strahm ein Recht auf Distanz, Geheimnis und entlastende Formeln ein. Sie plädiert für eine Vielfalt von Formen, die auch die. Möglichkeit, das Alte wählen zu können, beinhaltet. Im Bibliodrama, wie Marianne Vogel Kopp es beschreibt, wird der Textraum selbst zum Ort der Erfahrung mit allen Sinnen. Dort erschliesst sich im prozesshaften Zusammenspiel von Text, Gruppe und Individuum ein Sinnhorizont und neue Handlungsperspektiven. Nancy Cardoso Pereira lässt mit ihrer Interpretation des Hoheliedes den Text selbst zur sinnlichen Erfahrung werden – eine erotische Textauslegung, die durch die Schönheit der Sprache besticht und ein wahres Aha-Erlebnis ist. Eine Ahnung, wie inspirierend es sein könnte, wenn unsere Körperlichkeit wirklich in unser Denken und Schreiben aufscheint.

Barbara Lehner

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