Inhaltsübersicht
Silvia Strahm Bernet
Haarbotschaften
Catherine Steinegger
Kurze Haarbiograpie
Irina Bossart
Haarphil(osoph)ie
Silvia Strahm Bernet
Haariges in der Bibel
Rifa’at Lenzin
«An jedem Härchen tusend Seelen»
Haar und Religion
Doris Strahm
Haarige Geschichten
Hedwig Gerster
Haarige Betroffenheit
Leben mit einem behaarten Frauengesicht
EDITORIAL
Doris Strahm
«Haar ist nicht einfach nur Haar» – Mit dieser Feststellung beginnt Nina Bolt ihr Buch «Haare: Eine Kulturgeschichte der wichtigsten Hauptsache der Welt» (2001). Damit ist auf der einen Seite gemeint, dass wir Menschen unterschiedliche Haare besitzen: Kopfhaare, Augenbrauen, Augenwimpern, Barthaare, Haare in Ohren und Nase, Achselhaare, Brusthaare, Schamhaare und Haare an Armen und Beinen. Die Haare sind ein integraler Bestandteil der menschlichen Haut, auch wenn das Haarkleid im Laufe der Evolution seine ursprüngliche Hauptfunktion, nämlich den Schutz vor Hitze, Kälte und mechanischen Einwirkungen, weitgehend verloren hat. Dieser vergleichsweise geringen praktischen Bedeutung der Haare für den Menschen – im Gegensatz etwa zum Fell von Tieren – steht auf der anderen Seite eine immense psychologische, soziale, kulturelle und symbolische Bedeutung gegenüber. Die Kulturgeschichte zeigt, dass die Menschen den Haaren seit Jahrtausenden eine besondere Rolle und Symbolik beigemessen haben. Haare galten als Sitz der Seele und der Lebenskraft, als Symbol körperlicher Stärke, weltlicher Macht und auch magischer Kräfte. In Märchen, Sagen und Legenden sind Haare ein beliebtes Thema; sie spielen meist eine das Schicksal entscheidende Rolle. So muss in Grimms Märchen «Der Teufel mit den drei goldenen Haaren» der Bewerber um die Hand der Königstochter aus der Hölle drei goldene Haare vom Haupt des Teufels holen. In «Rapunzel» stellen die Haare die Verbindung zur Aussenwelt her. Sie sind das Medium, mit dessen Hilfe die Zauberin wie auch der Prinz zu «Rapunzel» gelangen können. Haare stellen in Märchen häufig eine Beziehung zum Guten wie zum Bösen dar. Eine besondere Rolle kommt den Haaren in Bezug auf die Sexualität und die Geschlechtsidentität zu. Gesichts- und Körperbehaarung sind in der Pubertät ja ein deutlich sichtbares Zeichen für die hormonellen Veränderungen im Körper. Sie gelten in unserer westlichen Kultur als wichtiges Merkmal der Unterscheidung und Zuordnung der Geschlechter bzw. der männlichen Geschlechtsidentität. So signalisieren und symbolisieren Gesichts- und Körperhaare Männlichkeit. Bei Frauen dagegen ist es das (lange) Kopfhaar, das traditionell Weiblichkeit symbolisiert. Vielleicht ist es diese tief verwurzelte Verbindung zwischen Haar und Sexualität, die der Haarindustrie die enormen Umsätze beschert. Haare künden aber nicht nur von Erotik und Sexualität; sie sind auch ein Barometer für das seelische und körperliche (Wohl-)Befinden. Nicht nur vor Schreck stehen uns die Haare zu Berge, auch Krankheit, Stress oder psychische Probleme lassen sich häufig am Zustand und Aussehen der Haare ablesen. Wissenschaftliche Haaranalysen erlauben sogar exakte diagnostische Informationen über den Gesundheitszustand eines Menschen oder den Nachweis von Drogen, Medikamenten und Giften, da das Haar über ein «Langzeitgedächtnis» verfügt. Wie eng Haare und Persönlichkeit miteinander verbunden sind, wie sehr sie mit dem persönlichen Selbstwertgefühl zu tun haben, wird oft erst dann bewusst, wenn mann oder frau unter Haarverlust oder dem Gegenteil: übermässigem Haarwuchs leidet. Beides kann zu erheblichen psychischen Belastungen führen – für Frauen noch stärker als für Männer, da Kahlköpfigkeit einerseits und starke Körperbehaarung andererseits nicht zum weiblichen Körperbild passen. Das Haar fungiert aber nicht nur als Zeichen für die Zugehörigkeit respektive Zuordnung zu einem Geschlecht, sondern auch zu einer sozialen Gruppe oder einer religiösen Gemeinschaft; es ist Mittel der körpersprachlichen Kommunikation mit dem Göttlichen und Heiligen, Bestandteil von Heirats-, Initiations- und Trauerritualen sowie Reliquienkulten. Gleichzeitig ist es – in unseren Tagen besonders augenfällig – Ausdrucksmittel der eigenen Individualität, wichtiges Medium der Selbstinszenierung. Das Haar wird zum Botschafter in eigener Sache getrimmt, die Frisur zum Kommunikations- und Werbemittel des individuell gestylten Ich: von blond über rot bis gesträhnt, von kahl über stoppelkurz bis zur wallenden Lockenpracht.
Einige Aspekte aus der Fülle dieser Haar-Botschaften werden in unserem Heft näher beleuchtet. Silvia Strahm Bernet geht in ihrem einleitenden Artikel einigen der verschiedenen kulturellen, sozialen, politischen und geschlechtsspezifischen Botschaften des Kopfhaares nach. Um das Kopfhaar drehen sich auch die beiden folgenden Artikel: Catherine Steinegger und Irina Bossart erzählen von der biographischen Bedeutung ihres (langen) Haares für die Entwicklung ihrer eigenen Identität und wie die Kürze bzw. Länge ihres Haares mit verschiedenen Abschnitten ihres Lebens verflochten war und ist. Dass die Bibel nicht nur einige «haarsträubende» Geschichten enthält, sondern auch sonst manch «Haariges» zu berichten weiss, dies ruft uns Silvia Strahm Bernet in ihren biblischen Haar-Betrachtungen in Erinnerung. Mit dem Thema «Haar und Religion» beschäftigt sich Rifa’at Lenzin in ihrem Artikel. Als Muslimin legt die Autorin den Schwerpunkt auf die Bedeutung der Haare und die religiösen Haarvorschriften im Islam, weitet den Blick aber auch auf andere Religionen aus. «Haare und Geschlecht» – die Bedeutung von Haaren für die Konstruktion von Weiblichkeit, ist Thema der beiden letzten Artikel. Wobei es dabei nicht, wie zu erwarten wäre, um die weibliche Haarpracht geht, sondern um «Haare am falschen Ort». Viele Frauen kennen das Problem: Im Sommer ist seidig glatte, haarlose «Beinfreiheit» und damit Rasieren und Rupfen angesagt. Was für die Mehrheit der Frauen eine jeden Sommer wiederkehrende lästige Pflicht zur Folge hat, ist für jene Frauen, die mehr als ein paar wenige Härchen an den Beinen haben, oft ein psychisches Problem und hat Auswirkungen auf ihr Selbstwertgefühl und ihre Geschlechtsidentität als Frau. Doris Strahm denkt in ihrem Beitrag über das Tabu weiblicher Körperbehaarung bzw. stark behaarter Frauenbeine nach und lässt dabei neben Fakten und Zahlen betroffene Frauen mit ihren schmerzlichen Haar-Geschichten zu Wort kommen. Auch der Artikel von Hedwig Gerster bricht ein gesellschaftliches Tabu. Die Autorin erzählt von ihrem Leben mit einem behaarten Frauengesicht und dem Versuch, zu ihren Haaren am vermeintlich falschen Ort zu stehen, aber auch davon, was es an sozialen Reaktionen provoziert und an Leiden bedeutet, wenn die äusseren Geschlechtsmerkmale nicht haargenau mit der Geschlechtsrolle übereinstimmen.
Die Spannbreite der Themen in unserem Heft bestätigt: «Haar ist nicht einfach nur Haar.» Es ist aufgeladen mit den unterschiedlichsten Bedeutungen und Botschaften, mit lustvollen und leidvollen Geschichten.